Die Kantonsparlamente: ein Modell mit Defiziten
ZFS Nr. 11/2025
Ein Beitrag von Thomas Dähler [1]
Einleitung
Der moderne kantonale Parlamentarismus entstand zur Zeit der französischen Besatzung und der liberalen Revolution von 1798-1848 und war eine Mischung aus französischen, englischen und amerikanischen parlamentsrechtlichen Instrumenten und Organisationsformen. [2] Die kantonalen Parlamente als Legislativorgane sind in ihrer heutigen Ausgestaltung auf die Mediationsverfassungen von 1803 zurückzuführen.
Die Parlamente des Bundes und der liberalen Kantone haben sich nach der Regeneration in den 1830er Jahren und im jungen Bundesstaat als selbstbewusste und omnipotente Institutionen verstanden. Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen die kantonalen Parlamente ganz im Sinne einer Parlamentssuprematie eine zentrale Stellung ein mit einer Überordnung über die anderen Gewalten. [3] Die Gewissheit der Überlegenheit gegenüber der Aristokratie der alten Ordnung und der unbedingte Gestaltungswille des liberalen Systems (Escher) liessen bei den Menschen im Lande aber bald zunehmenden Unmut aufkommen. Dieser Unmut führte in den 1860er Jahren zu den demokratischen Bewegungen, die sich in verschiedenen Kantonen gegen die Kontrolle des Staatswesens durch den Freisinn richteten und das Repräsentativsystem der parlamentarischen Demokratie durch direktdemokratische Einrichtungen ersetzen wollten. [4]
Die revidierten Kantonsverfassungen aus dieser Epoche mit den direktdemokratischen Instrumenten (Wahl der Regierungen durch das Volk, Initiative und Referendum) führten zu einer teilweisen Entmachtung der Parlamente und lösten damit eine Machtverschiebung von den Parlamenten zu den Exekutiven aus, die bis heute anhält.
In den letzten Jahrzehnten - seit etwa 1980 - erfolgten zwar verschiedene Korrektive wie die Einrichtung von Parlamentarischen Untersuchungskommissionen im Bund und vielen Kantonen sowie eine zaghafte - und häufig unvollständige - Verselbständigung der Parlamentsdienste. Diese Entwicklungen bewirkten eine Stärkung der Kantonsparlamente. Gleichzeitg intensivierten die Exekutiven ihre interkantonale Zusammenarbeit ohne inhaltliche Mitwirkung der Parlamente. Trotz der immer noch starken verfassungsmässigen Stellung der kantonalen Parlamente bezeichnet die Politologie deren Bedeutung inzwischen als «irrelevant». [5]
Das Modell der kantonalen Parlamente der Schweiz weist im internationalen Vergleich, insbesondere zu den deutschsprachigen Nachbarstaaten, diverse Schwachpunkte auf, die ein Ungleichgewicht der Staatsgewalten zulasten der Parlamente nach sich ziehen.
These I: Vielen kantonalen Parlamenten fehlt es an der Durchsetzungskraft gegenüber den Regierungen und am Willen, diese Durchsetzungskraft zu stärken
Die Volkswahl der kantonalen Regierungen raubt den Parlamenten ein wichtiges Druckmittel. Diese Wahlkompetenz lag in den meisten Kantonen im 19. Jahrhundert zunächst bei den Parlamenten und wurde dann nach und nach durch die Volkswahl der Exekutiven abgelöst. Im Gegensatz zur Bundesversammlung und zu den Landesparlamenten in Deutschland und Österreich haben die Schweizer Kantonsparlamente kein Mitspracherecht bei der Zusammensetzung ihrer Regierungen.
Als erster Nicht-Landsgemeindekanton führte Genf 1847 die geheime Direktwahl des Conseil d'Etat ein. Später etablierte die demokratische Zürcher Verfassung von 1869 die Volkswahl des Regierungsrates. Der Übergang zur Volkswahl zog sich in den übrigen Ständen über mehr als 70 Jahre hin. Ihren Abschluss fand diese Demokratisierungswelle erst in den 1920er Jahren, als der Freiburger und der Walliser Souverän das Recht zur direkten Wahl der Exekutive erhielten. [6]
Auch die Wahl der Mitglieder des Ständerates lag im 19. Jahrhundert vornehmlich in der Kompetenz der Kantonsparlamente. Ab 1867 begannen verschiedene Kantone, ihre Ständeräte durch das Volk zu wählen. Die Einführung der Volkswahl des Ständerates war ein über hundert Jahre dauernder Prozess: Nach Freiburg (1972) führte der Kanton Bern die Volkswahl der Ständeräte 1977 als letzter ein.
Eher von symbolischer Bedeutung ist dagegen die Kompetenz zur jährlichen Wahl der Regierungspräsidien. In ZH, SO und GE wählt der Regierungsrat seine Präsidentin und Vizepräsidentin selber, in GL und AI wählt die Landsgemeinde das Präsidium der Regierung und in BS, AR und UR wird es vom Volk an der Urne gewählt. In den anderen Kantonen steht diese Befugnis - noch - dem Parlament zu. [7] Bei der neuen baselstädtischen Verfassung von 2005, die durch einen von Exponenten der Exekutive stark geprägten Verfassungsrat ausgearbeitet wurde, übertrug man die Wahl des Regierungspräsidiums dem Volk mit der Begründung, dass für eine Stadt ein «Stadtpräsident» mit direktdemokratischer Legitimation angemessen sei. Auch wenn diese Argumentation nicht falsch ist, war im Verfassungsrat die mit dem Verlust dieser Wahlkompetenz verbundene weitere Schwächung des Grossen Rates kein Thema.
Eine weitere Festigung der Exekutivdominanz bewirken die in jüngerer Zeit in zunehmender Zahl geschaffenen interkantonalen Staatsverträge und Konkordate. Ein offizielle Liste über die interkantonalen Vereinbarungen fehlt, da die BV 1999 die Kantone nicht mehr verpflichtet, dem Bund abgeschlossene Vereinbarungen zu melden. Das Zentrum für Rechtsinformation ZRI hat dazu die Plattform INTLEX [8] eingerichtet. Derzeit enthält INTLEX sämtliche interkantonalen Vereinbarungen, an denen die Kantone ZG, SH, SG, GR, TG und VS gegenwärtig beteiligt sind. Weitere Kantone werden voraussichtlich nachziehen.
Das bundesstaatliche Konstrukt mit 26 selbständigen Teilstaaten, wovon etwa die Hälfte weniger als 200'000 Einwohner zählt, drängt die Kantone zu einer übergreifenden Zusammenarbeit bei der Erfüllung vieler öffentlicher Aufgaben. Eine umfassende Gebietsreform mit der Zusammenlegung von Kantonen ist mittelfristig nicht realistisch. Dass die Regierungen deshalb mit Konkordaten und Staatsverträgen die interkantonale Zusammenarbeit organisieren, ist wirtschaftlich gesehen richtig und wichtig. Wenn sie Gesetzeswirkung entfalten, müssen solche Vertragswerke in der Regel den Parlamenten zur Genehmigung vorgelegt werden, allerdings ohne dass die Parlamente und ihre Organe inhaltlich noch mitwirken können. Damit können die Exekutiven teilweise die den Parlamenten vorbehaltene Gesetzgebungskompetenz faktisch selber ausüben.
Zweifellos vereinfachen solche Vorgänge die Regierungsarbeit. Aber der Verdacht, dass da oder dort auch Staatsverträge abgeschlossen werden, um die inhaltliche parlamentarische Mitwirkung umgehen zu können, liegt in der Luft. Die Aufsichtsorgane der Kantonsparlamente tun gut daran, diese Entwicklung aufmerksam und kritisch zu beobachten. Die Parlamente einzelner Kantone haben deshalb Verfahren entwickelt, um mindestens vorgängig informiert zu werden über Staatsverträge, die sich in der Vorbereitungsphase befinden. Eine Übersicht dazu bietet die Plattform kantonsparlamente.ch (Tabelle K). [9]
Die gesetzliche Informationspflicht über Staatsvertrags-Projekte funktioniert allerdings nicht überall zufriedenstellend. Gerade bei interkantonalen Vereinbarungen, in denen die Kantone als Geschäftspartner von Privaten auftreten, befürchten die Regierungen mögliche Nachteile, wenn Inhalte von Vereinbarungen dem Parlament zur Kenntnis gebracht und damit vorzeitig publik werden. Solche Befürchtungen sind verständlich. Der Grosse Rat Basel-Stadt beispielsweise hat daher mit der Regierung vereinbart, dass Staatsverträge de lege ferenda nicht dem ganzen Parlament, sondern nur dem Büro (Parlamentsleitung) und der zuständigen Kommission zur Kenntnis gebracht werden. In besonders heiklen Fällen werden sogar nur die Präsidien des Rates und der Kommission informiert. [10] Das Verfahren hat sich bewährt, auch wenn eine direkte Mitwirkung der Parlamentsorgane an Staatsverträgen weiterhin nicht möglich ist.
Bei Aufträgen der Parlamente an die Regierungen in unverbindlicher Form (Postulate) oder auch bei verbindlichen Motionen, die ihr nicht ins Konzept passen, finden die Regierungen häufig einen Ausweg, um diese nicht erfüllen zu müssen (ausser natürlich, wenn sie einem Parlamentsmitglied oder einer Fraktion in «Auftrag gegeben» wurden). Dazu ein Beispiel: im Kantons Basel-Stadt wurde anfangs 2004 ein Vorstoss eingereicht für Tempo 30 in einer Quartierstrasse. [11] Der Vorstoss wurde dem Regierungsrat überwiesen und nach zwei Jahren beantragte dieser, den Vorstoss abzuschreiben, ohne ihn zu erfüllen. Darauf hat der Grosse Rat den Vorstoss erneut zur Berichterstattung innert zwei Jahren überwiesen. Dieses Verfahren wiederholte sich zehn (!) Mal und 2020 konnte das Geschäft erledigt werden, nachdem die Verwaltung die Temporeduktion umgesetzt hatte. Gut Ding will Weile haben.
Ein beliebtes Argument der Exekutiven gegen missliebige parlamentarische Vorstösse ist die Behauptung einer angeblichen Verletzung der Kompetenzordnung: das Anliegen sei gesetzes- oder verfassungswidrig, weil es einen Gegenstand betreffe, der in die abschliessende Kompetenz der Regierung falle. Das mag in Einzelfall auch zutreffen. Nicht selten handelt es sich dabei aber um einen Vorwand, der von den Parlamenten gutgläubig akzeptiert wird. Die Parlamente verfügen häufig nicht über unabhängige Rechtsdienste, die in der Lage wären, die Argumentation der Exekutive zu hinterfragen und zu widerlegen. Auch Rechtsgutachten oder gar die Anrufung der Verfassungsgerichtsbarkeit des Kantons könnten in solchen Fällen hilfreich sein. Ganz abgesehen davon, dass es in der Kompetenz des Parlamentes läge, mit einem Gesetz die Kompetenzordnung zu ändern.
In einzelnen Kantonen wird zudem aus der Sicht des Parlaments leider ein latentes Respektdefizit der Regierung gegenüber der Volksvertretung wahrgenommen. Ein solches manifestiert sich beispielsweise in einzelnen Kantonen in der mangelhaften Präsenz der Regierungsmitglieder an den Sitzungen des Parlaments und einem demonstrativen Desinteresse an der Parlamentsarbeit. Die Formulierung in der baselstädtischen Verfassung «Die Mitglieder des Regierungsrates nehmen an den Sitzungen des Grossen Rates […] teil.» [12] wird seitens der Exekutive umgedeutet in «… nur wenn es sich gar nicht vermeiden lässt.» Dabei würde ein engerer Kontakt zwischen Regierung und Parlament dem Staatswesen dienlich sein.
Während in den ersten Jahrzehnten des Bundesstaates die vornehmlich liberal geprägten kantonalen Parlamente eine erhebliche Machtfülle hatten, ist diese später einer Exekutivdominanz gewichen, die sich in den letzten Jahrzehnten noch deutlich verstärkt hat. [13] Dabei sind häufig auch Aufgabenbereiche auszumachen, die - auf Antrag der Exekutive - gutgläubig vom Parlament an die Regierung delegiert wurden. Auch solche Abläufe sind für die zunehmende Exekutivdominanz und die immer grösser werdende Schieflage im Gleichgewicht der Staatsgewalten mit verantwortlich.
These II: Die jährlich wechselnden Präsidien der Parlamente sind eine strukturelle Schwäche der kantonalen (und kommunalen) Parlamente
Eine Besonderheit der politischen Kultur in der Schweiz sind die lediglich einjährigen Amtsdauern der Parlamentspräsidien. Die beiden Kammern des Bundesparlaments, die kantonalen Parlamente - mit Ausnahme des Kantonsrates Zug - und die meisten Parlamente der grösseren Städte und Gemeinden wählen ihre Präsidien für lediglich ein Jahr. Diese seit jeher in der Schweiz geübte Praxis ist dem Konkordanzsystem zuträglich und leistet einen Beitrag zum «politischen Frieden».
Das aus dem Ancien Régime stammende Prinzip der einjährigen Präsidien hat aber bedeutende Nachteile. Die fehlende personelle Kontinuität in der Parlamentsleitung über mehrere Jahre ist eine erhebliche strukturelle Schwäche, welche die Parlamente gegenüber den professionell organisierten Exekutiven benachteiligt. Gerade Reformen zur Stärkung der Parlamente dauern häufig mehrere Jahre und werden durch die dauernden Wechsel in den Parlamentsleitungen erschwert. Dieser Mangel ist nicht zuletzt einer der Gründe, weshalb sich von der Exekutive vollständig unabhängige Parlamentsdienste im Gegensatz zu einem internationalen Standard erst in wenigen Kantonen etablieren konnten.
Gerade in grenzüberschreitenden Gremien ist das einjährige Parlamentspräsidium der Schweizer Kantone ein Handicap. Während beispielsweise in der Internationalen Parlamentarischen Bodenseekonferenz [14] die Landtage von Vorarlberg, Bayern, Baden-Württemberg und Liechtenstein über mehrere Jahre personelle Kontinuität bieten, sind die beteiligten kantonalen Parlamente (AI, AR, SG, SH, TG, ZH) jedes Jahr mit wechselnden Delegationen vertreten, was deren Position erheblich beeinträchtigt. Ein ähnlicher Effekt zeigte sich früher auch beim Oberrheinrat [15] mit Abgeordneten aus den Landtagen von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, dem Elsass und den Kantonsparlamenten von BL, BS, SO, AG und JU. In den Oberrheinrat werden deshalb seitens der Kantone seit einiger Zeit nicht mehr die Parlamentspräsidien, sondern auf Amtszeit gewählte Delegationen abgeordnet.
Eine andere denkbare Lösung zur Abfederung des Problems der rotierenden Präsidien wäre, eine auf Amtsdauer gewählte Parlamentsleitung (Ratsbüro) als Kollegialorgan zu etablieren mit gleichbleibenden Ressorts und lediglich die Leitung der Plenarsitzung jährlich rotieren zu lassen. Als mögliche permanente Ressorts vorstellbar wären die Aufsicht über die Parlamentsdienste, die Kontakte zu den dem Parlament zugeordneten Diensten (Finanzkontrolle, Ombudsstelle, Datenschutzbeauftragte), die Vertretung gegenüber Exekutive und Judikative und natürlich die Vertretung gegenüber der Öffentlichkeit (Grussworte des Parlaments an allerlei Anlässen).
Ein kleiner, in den meisten Fällen rasch realisierbarer und wirksamer Schritt wäre ein Übergang zu einem – mindestens – zweijährigen Präsidium des Parlaments, verbunden mit einer Professionalisierung der präsidialen Infrastruktur.
These III: Die Selbstwahrnehmung der kantonalen Parlamente ist regional stark unterschiedlich und teilweise neigen die Parlamente zur Autoritätsgläubigkeit
Ein Besuch auf den Zuschauertribünen der kantonalen Parlamente macht es augenfällig: während in den Parlaments-Plenarsälen der urbanen Kantone ähnlich wie im Nationalrat meistens ein reger Austausch - begleitet von einem dezenten Lärmpegel - stattfindet, ist es in den Parlamenten der ländlichen Kantone häufig mäuschenstill: Einer spricht und alle andern hören aufmerksam zu (ohne gleichzeitig Mails zu beantworten oder zu tuscheln). Vor allem in den «Sondersbundskantonen» herrscht teilweise noch heute ein anderes Selbstverständnis der Rolle des Parlaments. [16] Man versteht sich dort tendenziell als «Grosser Rat», der dem «Kleinen Rat» bei seiner Staatsleitungsaufgabe hilfreich zur Seite steht. Im Grossen Rat des Kantons Graubünden beispielsweise war es bis vor einigen Jahren der Brauch, dass sich die meisten Ratsmitglieder von den Sitzen erhoben, sobald ein Mitglied der Regierung den Plenarsaal betrat. Eine lebendige Parlamentskultur auf Augenhöhe bestünde dagegen im gegenseitigen Austausch innerhalb des Parlaments und zwischen den Staatsgewalten. Das Wort «Parlament» kommt schliesslich von «parlare», nicht wie in der russischen Duma von «denken». [17]
Die kritische Begleitung der Arbeit der Regierung und der Verwaltung wird gerade in den kleinen Kantonen durch den Umstand beeinträchtigt, dass man sich (zu) gut kennt und sich nicht unnötig auf die Füsse treten will. Dazu kommt, dass in diesen kleineren Kantonen das Backoffice des Parlaments in der Regel der Staatskanzlei angegliedert ist und die Staatsschreiberin oder der Staatsschreiber gleichzeitig für das Parlament und die Regierung arbeitet. Man nennt dieses Prinzip euphemistisch «Kooperationsmodell» und missachtet dabei, dass es eine Kooperation zwischen ungleich mächtigen Partnern ist: die Exekutive verfügt über einen professionellen Apparat, während die Mitglieder des Parlaments auf sich selber angewiesen sind. Auch der Fischer und der Wurm bilden eine Kooperation, wenn sie zusammen angeln gehen. In den deutschen Bundesländern ist die von der Exekutive völlig unabhängige Landtagsdirektion seit 1949 eine Selbstverständlichkeit, auch wenn dafür die personelle Gewaltentrennung in den Landtagen nicht konsequent eingehalten wird.
Wünschenswert wäre eine grössere Bereitschaft der Parlamentsleitungen kleiner Kantone, sich die nötigen Instrumente zu geben, um der Rolle eines wirksamen Parlaments noch gerechter zu werden. Damit könnte auch das Ungleichgewicht zwischen den Gewalten vermindert werden. Dies unbeachtet des Umstandes, dass die Staatsschreiber als Vertreter der Regierungen - häufig mit «beratender Stimme» an den Sitzungen der Parlamentsleitung anwesend - vor solchen Schritten warnen, sinngemäss etwa: «Wir in unserem engen Tal müssen doch am gleichen Strick ziehen und sollten nicht gegeneinander arbeiten».
These IV: Kantonale Parlamente haben auch wichtige Stärken
Neben den aufgezeigten Schwächen haben die kantonalen Parlamente auch Stärken, die sie gegenüber den Parlamenten der Bundesländer in Deutschland und Österreich auszeichnen. Eine davon ist die kleine Vertretungsrate: die neun Mio. Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz werden auf kantonaler Ebene durch 2'594 Parlamentsmitglieder vertreten. Das entspricht einer Vertretungsrate von 3'470 Personen pro Mitglied. Im Vergleich dazu sitzen in den 16 deutschen Landtagen insgesamt 1'739 Mitglieder, welche 83.6 Mio. Menschen vertreten, was eine Vertretungsrate von 48'000 pro Mitglied ergibt. Mit anderen Worten: die Chance, dass die Einwohnerinnen und Einwohner in der Schweiz ein Mitglied ihres Kantonsparlaments persönlich kennen, ist fast 14 mal grösser als in Deutschland. Damit ist auch der Aufwand, ein Mitglied des kantonalen Parlaments zu kontaktieren, um ein Anliegen vorzutragen, um ein Vielfaches kleiner.
Diese kleine Vertretungsrate ermöglicht praktisch allen Menschen im Land, indirekt Themen bei ihren Abgeordneten zu deponieren und gibt ihnen das Gefühl, etwas bewegen zu können.
Die um die Jahrhundertwende in mehreren Kantonen - zum Teil sogar mehrfach - erfolgten Verkleinerungen der Parlamente ist in diesem Kontext kritisch zu betrachten. Eine Reduktion der Zahl der Mitglieder des Parlaments ist praktisch linear eine Schwächung des Parlaments und damit eine weitere Verstärkung der Exekutivdominanz. Finanzielle Auswirkungen haben solche Verkleinerungen kaum, da die Gesamtkosten eines Parlaments auf allen Stufen etwa 0.10 bis 0.15 Prozent des Staatshaushalts betragen. Oder umgerechnet: einen Kaffee und ein Croissant pro Einwohner und Jahr. Politisch (und populistisch) kann man mit solchen Sparvorschlägen vielleicht punkten. Aber der Schaden, der dem demokratischen System durch die Verkleinerung (und damit die Schwächung) der Parlamente zugefügt wird, ist unverhältnismässig und meistens irreversibel.
Die Budgetkompetenz der kantonalen Parlamente ist bedeutend stärker als diejenige der deutschen und österreichischen Landtage, auch wenn in einem kantonalen Budget der grösste Teil der Ausgaben gesetzlich gebunden und damit kaum beeinflussbar ist. Zwar kann das Parlament über die Festsetzung des Steuerfusses global die Staatstätigkeit beeinflussen. Mit der Einführung von Globalbudgets, die den Exekutiven einen grossen Spielraum bei der Einsetzung der verfügbaren Ressourcen geben, hat allerdings auch hier der Einfluss der Parlamente deutlich abgenommen.
Eine weitere Stärke ist die Möglichkeit der meisten Kantonsparlamente (ausser AI, SG und TG) [18], Parlamentarische Untersuchungskommissionen (PUK) «zur Klärung von Vorkommnissen von grosser Tragweite» [19] einzusetzen. Auch wenn dieses Instrument je nach Kanton in unterschiedlicher Intensität zur Anwendung kommt und gelegentlich kaum fassbare Ergebnisse zeitigt, ist seine präventive Wirkung nicht zu unterschätzen. Allein die Aussicht, dass eine PUK umfassende Einsichtsrechte hat, kann bewirken, dass der Compliance der Verwaltungs- und Regierungstätigkeit grössere Beachtung geschenkt wird. Damit wird auch das Willkür- und Korruptionspotenzial in engen Grenzen gehalten, was nicht zuletzt in wirtschaftlicher Hinsicht einen Standortvorteil für die ganze Schweiz darstellt. In ausländischen Parlamenten, welche nicht dem Konkordanzsystem verpflichtet sind, sondern mit ihrer Mehrheit dafür sorgen, dass Schaden von der Koalitionsregierung abgewendet wird, sind solche Mechanismen schwieriger zu realisieren.
These V: Die Parlamente hätten es in der Hand, sich selber zu stärken
Die direkte Wahl der kantonalen Regierungen durch die Stimmberechtigten, die Kurzzeit-Präsidien und die unterschiedlichen - zum Teil autoritätsgläubigen - Parlamentskulturen wirken sich negativ auf die Stärke und Durchsetzungskraft der kantonalen Parlamente aus.
Während eine Verfassungsänderung zur Rückkehr zu einer indirekten Wahl der Exekutiven kaum Chancen hat, von der Bevölkerung angenommen zu werden, wären andere Massnahmen wie die Abkehr vom System der jährlich wechselnden Parlamentsleitungen und die konsequente Gewaltenteilung auf der administrativen Ebene (nicht nur formal, sondern auch faktisch unabhängige Parlamentsdienste) in allen (!) Kantonen durchaus wünschenswert. Entscheidend wäre dabei, dass diese selbständigen Parlamentsdienste auch über einen von der Exekutive unabhängigen Rechtsdienst verfügen. So oder so tun die kantonalen Parlamente gut daran, mehr Selbstbewusstsein und Selbstachtung zu entfalten, um einer weiter zunehmenden Exekutivdominanz entgegenzuwirken.
Eine weiterer denkbarer Beitrag zur Stärkung der kantonalen Parlamente und ihrer Organe wäre auch das Angebot von Weiterbildungsseminaren für neu gewählte Parlamentsmitglieder in kantonalem Staatsrecht und Staatsleitung, wie sie das Institut für Föderalismus der Universität Freiburg bereits für neue Mitglieder der Kantonsregierungen anbietet. Schwerpunkte solcher Seminare müssten neben dem Staatsrecht auch die Prozesse und Strukturen der kantonalen Parlamente sein. Auch der Netzwerk-Aspekt sollte dabei nicht zu kurz kommen.
Seit etwa 1980 finden jährliche Treffen der Parlamentspräsidien statt, naturgemäss immer in anderer Zusammensetzung. Während die Parlamentsdienste der Kantone untereinander recht gut vernetzt sind, beschränkt sich der Austausch zwischen den Parlamentsleitungen bisher meistens auf diese gesellschaftlichen Anlässe. Hier wäre bedeutend mehr möglich.
Die Konferenz der Kantonsregierungen KdK [20] verfügt über ein Sekretariat mit 25 Mitarbeitenden. Die Interkantonale Legislativkonferenz ILK [21] dagegen, die sich als «Verband» der kantonalen Parlamente versteht, hat ein Back Office von weniger als einer ganzen Vollzeitstelle. Auch hier herrscht ein eklatantes Ungleichgewicht.
These VI: Gut funktionierende Parlamente sind wirksame Bollwerke gegen autoritäre Strömungen
Die Geschichte zeigt es immer wieder: autoritäre Regimes beginnen zuerst damit, die Parlamente zu schwächen oder gar auszuschalten. 1933 gelang es dem österreichischen Bundeskanzler Dollfuss, auf Grund eine Formalität das Parlament auszuschalten. Er regierte in der Folge ohne Parlament auf Basis einer Notverordnung aus der Zeit der Monarchie. Die Regierung nutzte die Notverordnungen, um die Wirkungsmöglichkeiten der Opposition immer weiter zu beschneiden. Im Februar 1934 führte dies zu einem blutigen Bürgerkrieg.
Manchmal sind es auch die Parlamente selber, die sich - auf Antrag der Regierung - selbst demontieren. So beschloss das türkische Parlament 2016, das Immunitätsrecht aufzuheben und ermöglichte dadurch der Regierung, gegen oppositionelle Parlamentsmitglieder strafrechtlich vorzugehen.
In den Schweizer Kantonen haben in den 1990er Jahren neue Modelle der Verwaltungsführung (New Public Management) Einzug gehalten. Unter dem Vorwand, die Effizienz der Staatsleitung zu optimieren haben die Regierungen den Parlamenten Kompetenzverlagerungen vorgeschlagen und sind dabei selten auf Opposition gestossen. Auch die Einführung von Globalbudgets erweiterte den Handlungsspielraum der Exekutive zulasten der Parlamente. Solche Vorgänge sind meistens irreversibel und müssen im Einzelfall sehr sorgfältig hinterfragt werden.
Vor diesem Hintergrund sind auch die in den letzten Jahren geschaffenen «Bürgerräte» oder «Bürgerforen» zu hinterfragen. Gerade dort, wo solche neuen Formate der öffentlichen Meinungsbildung von den Exekutiven eingerichtet oder gefördert werden, besteht das Risiko, dass sie dazu dienen, die demokratisch legitimierten Parlamente zu schwächen.
Starke und selbstbewusste demokratisch gewählte Parlamente sind in der Lage, auf autoritäre Tendenzen der Exekutiven wirksam zu reagieren. Dies Funktion ist - gerade in der heutigen Zeit - nötiger denn je. Tragen wir den Parlamenten Sorge, auf allen Ebenen.
[1] Thomas Dähler (1953), dipl. Ing. ETH, Verkehrsingenieur, Zürich. Kantonsrat Zürich (FDP) 1991-2003, Kantonsratspräsident 2002/2003, danach 2004-2018 Leiter Parlamentsdienst und erster Ratssekretär des Grossen Rates Basel-Stadt. Herausgeber des Praxiskommentars zur Geschäftsordnung des Grossen Rates Basel-Stadt. Leiter des Verlags parliaments.ch. Projektleiter und Initiant der öffentlichen Datenbank kantonsparlamente.ch über die kantonalen Parlamente.
[2] Moritz von Wyss, Maximen und Prinzipien des parlamentarischen Verfahrens, Diss. Zürich 2000, S. 9 f.
[3] Alfred Kölz, Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte, Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen bis 1848, Bern 2004 (Bd. I), S. 345.
[4] Markus Bürgi, Historisches Lexikon der Schweiz hls-dhs-dss.ch > Demokratische Bewegung
[5] u.a. Adrian Vatter, Einleitung und Übersicht: Macht und Ohnmacht des Parlaments in der Schweiz
[6] Adrian Vatter, hls-dhs-dss.ch > Kantonsregierungen
[7] Andreas Auer, Staatsrecht der Schweizerischen Kantone, 2016, S. 78
[8] www.zri.ch/intlex.htm
[9] www.kantonsparlamente.ch?app=K
[10] § 38 GO-BS, s.a. Thomas Dähler, Praxiskommentar zur Geschäftsordnung des Grossen Rates Basel-Stadt (Auflage 2024), S. 254 ff.
[11] www.grosserrat.bs.ch?gnr=04.7817
[12] Art. 100 Abs. 2 Kantonsverfassung Basel-Stadt
[13] Stephanie Kaiss, Das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive in den Schweizer Kantonen: Das Ausmass der Exekutivdominanz auf kantonaler Ebene, Parlament, 1/2012, S. 17 ff.
[14] www.bodenseeparlamente.org
[15] Der Oberrheinrat besteht aus 71 Parlamentsmitgliedern und weiteren Gewählten, die die Bevölkerung des Oberrheingebiets vertreten. Davon kommen 26 aus dem Elsass, 26 aus Baden, 11 aus den Kantonen der Nordwestschweiz und 8 aus der Süd- und Südwestpfalz. (www.oberrheinrat.org)
[16] Adrian Vatter, Wolf Linder, Peter Farago, 1997 Swiss Political Science Review 3(1): 1-63
[17] Russisches Wort für Denken = Думать, gesprochen : dumat
[18] www.kantonsparlamente.ch?app=F.200
[19] Kantonsratsgesetz ZH, § 115
[20] www.kdk.ch
[21] www.parlamente.ch