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Rechtswissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl Loacker

IPR/IZVR: Anwendbarkeit der EuGVVO im Kontext militärischer Einsätze

Hintergrund
Bei Streitbefangenheit von Ansprüchen aus Lieferverträgen würde man gemeinhin keine ausführliche Diskussion des sachlichen Anwendungsbereichs der EuGVVO (Verordnung [EU] Nr. 1215/2012)  erwarten. Erfolgt die darin vereinbarte Kraftstofflieferung allerdings an internationale Organisationen zwecks Erfüllung militärischer Aufgaben in Afghanistan, trübt dies die scheinbar klare Zuordnung des Vertragsverhältnisses zu den in sachlicher Hinsicht anwendungsbegründenden Zivil- und Handelssachen i.S.v. Art. 1 Abs. 1 EuGVVO (so auch Art. 1 Abs. 1 LugÜ ). In der Rechtssache C-186/19, Supreme-Gesellschaften/Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE), bot sich dem EuGH die Gelegenheit, mit Urteil vom 3. September 2020 die Kasuistik (vgl. hierzu etwa MüKo ZPO-GOTTWALD, 5. Aufl. 2017, Art. 1 Brüssel Ia-VO Rn. 1 u. 4) zum (unions-)autonom auszulegenden (zur rechtsaktübergreifenden Bedeutung Rauscher/MANKOWSKI, EuZPR/EuIPR [2015], Art. 1 Brüssel Ia-VO Rn. 3) sachlichen Anwendungsbereich der EuGVVO hinsichtlich dreier Aspekte anzureichern: 

Da der Vorabentscheidung ein auf vorläufigen Rechtsschutz gerichtetes Ausgangsverfahren zugrunde lag, dessen Gegenstand die Arrestpfändung von Vermögenswerten zur Absicherung der Zahlungsverpflichtungen aus Liefervereinbarungen bildete, stellte der EuGH in einem ersten Schritt klar, dass für die Prüfung der Anwendbarkeit der EuGVVO im Rahmen des Massnahmenverfahrens – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs (de Cavel, Rs. 143/78 , Rn. 8; Reichert u. Kockler/Dresdner Bank, Rs. C-261/90 , Rn. 32) – auf die Rechtsnatur der Ansprüche abzustellen sei, die mit den einstweiligen Massnahmen gesichert werden sollen (Rn. 54; vgl. für das LugÜ etwa Schnyder, LugÜ-ACOCELLA, Art. 31 Rn. 8 f.). Entgegen der Ansicht der Parteien des Ausgangsverfahrens sind daher für Qualifikationszwecke in Anwendung von Art. 35 EuGVVO (entspricht Art. 31 LugÜ) weder (schlicht) «die Merkmale des Hauptsacheverfahrens» noch die den «Sicherungsmaßnahmen eigenen Merkmale» (Rn. 51) massgeblich.

Nachdem geklärt war, worauf für die Prüfung des sachlichen Anwendungsbereichs zu referenzieren ist, galt es zu erwägen, ob die einstweilig zu sichernden Forderungen aus den Lieferverträgen als Zivil- und Handelssache i.S.v. Art. 1 Abs. 1 EuGVVO zu qualifizieren sind oder ob der Vertragsschluss mit einer internationalen Organisation bzw. die Verwendung des gelieferten Treibstoffes für militärische Zwecke die Normzuständigkeit der EuGVVO hindert. Im Zuge dieser Analyse führte der Europäische Gerichtshof hinsichtlich der von der internationalen Organisation geltend gemachten Vollstreckungsimmunität aus, dass diese, wie die Staatenimmunität überhaupt, nicht absolut gelte (Rn. 58; siehe hierzu für die Schweiz auch die Hinweise des EDA ). Die der internationalen Organisation qua völkerrechtlichen Vertrags eingeräumte Immunität steht der Anwendung der EuGVVO daher nicht grundsätzlich entgegen (Rn. 62). Wenn nun allein aus dem Umstand, dass (zumindest) eine Vertragspartei Trägerin hoheitlicher Befugnisse ist, noch keine automatische Nichtanwendbarkeit der EuGVVO – und der Verordnungen des europäischen IZVR ganz generell – gefolgert werden kann, stellt sich abschliessend die Frage, nach welchen Kriterien im Einzelfall bestimmt wird, ob eine den sachlichen Anwendungsbereich eröffnende Zivil- und Handelssache vorliegt. Gehen die beiden Parteien im Rahmen des zu beurteilenden Rechtsverhältnisses freiwillig Rechte und Pflichten ein und handelt die internationale Organisation als Trägerin von Privatrechten (acta iure gestionis) so handelt es sich um eine Zivil- und Handelssache. Soweit die Handlungen der internationalen Organisation demgegenüber als Ausübung hoheitlicher Befugnisse zu bewerten sind (acta iure imperii) bleibt der sachliche Anwendungsbereich der Verordnung verschlossen. Der möglicherweise öffentliche Verwendungszweck des gelieferten Kraftstoffes beeinflusst die Qualifizierung des Rechtsverhältnisses in dieser Hinsicht nicht (Rn. 66; für eine diese Auslegungsdimensionen des Anwendungsbereichs des LugÜ betreffende Entscheidung vgl. BGE 124 III 382  = Pra. 1999 Nr. 24 , insb. E. 4 u. 6). Eine Zuständigkeitsverortung gestützt auf die EuGVVO ist daher auch im Umfeld militärischer Operationen denkbar.

Im Rahmen einer zweiten Vorlagefrage hielt der EuGH mit wenigen Federstrichen fest, dass für die im Ausgangsverfahren u.a. anbegehrte Aufhebung der zuvor bewilligten Arrestpfändung keine ausschliessliche Zuständigkeit nach Art. 24 Nr. 5 EuGVVO (entspricht Art. 22 Ziff. 5 LugÜ) bestehe, weil Gegenstand dieses Massnahmenverfahrens nicht, wie bestimmungsgemäss gefordert, die Zwangsvollstreckung selbst sei. Anders sähe es aus, wenn sich die internationale Organisation gegen die i.Z.m. der Vollstreckung der Arrestpfändung verfügten Anordnungen zur Wehr setzte (vgl. Rn. 73). Die für das Verständnis von Art. 24 Nr. 5 EuGVVO notwendige Abgrenzung von Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren (Rauscher/MANKOWSKI, EuZPR/EuIPR [2015], Art. 24 Brüssel Ia-VO Rn. 131; vgl. auch MARKUS, in: Dasser/Oberhammer (Hrsg.), Kommentar zum Lugano-Übereinkommen, 2. Aufl. 2011, Art. 22 LugÜ Rn. 160) mag, trotz der durch die Kürze der gerichtlichen Stellungnahme im besprechungsgegenständlichen Urteil suggerierten Einfachheit, gerade bei Verfahren im Dunstkreis der Zwangsvollstreckung (bspw. eben bei Arrestpfändungen), wie die Frage des vorlegenden Gerichts beweist, Schwierigkeiten bereiten.

Fazit
Kurz nach Verkündung des Urteils LG u.a./Rina u. Ente Registro Italiano Navale (Rs. C-641/18 ) vom 7. Mai 2020 hatte der EuGH in vorliegend summarisch dargestellter Entscheidung erneut den Begriff der Zivil- und Handelssache mit Blick auf die vom Anwendungsbereich ausgeschlossenen acta iure imperii und damit in sehr ähnlichem Milieu zu konturieren. Die der hier interessierenden Vorabentscheidung zugrunde liegenden Vorlagefragen dürften aber nicht zuletzt durch die Verzahnung von Massnahmenverfahren, Geltendmachung der völkerrechtlichen Immunität sowie des nicht alltäglichen Vertragszwecks (Kraftstofflieferung für militärische Operationen) bedingt gewesen sein. Die Klärung des Verhältnisses dieser Elemente zueinander sowie deren Rückführung auf bekannte Auslegungsprobleme sind wohl der wahre Wert des neuen Judikats. Zudem stellt das Urteil klar, dass die etwaig bestehende völkerrechtliche Immunität die Anwendung dieser zentralen Verordnung des europäischen Zivilverfahrensrechts nicht grundsätzlich und in jedem Fall ausschliesst und sich überdies auch im Kontext militärischer Einsätze – etwa bei Handlungen die verwaltungsrechtlich der Bedarfsverwaltung zuzurechnen wären – Urteilszuständigkeiten auf die EuGVVO abstützen lassen. Obwohl seit der Neufassung der EuGVVO in vielerlei Hinsicht Divergenzen zum Lugano-Übereinkommen bestehen, unterscheiden sich die den Erwägungen zur Rs. C-186/19 als Grundlage dienenden Bestimmungen nur unwesentlich von jenen des LugÜ, sodass die Erkenntnisse auch für schweizerische Gerichte und die zukünftige Rechtsprechung zum Lugano-Übereinkommen von Bedeutung sind.

Gian Andri Capaul

 

Der Beitrag gibt ausschliesslich die persönliche Meinung des Verfassers wieder.