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Rechtswissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl Liebrecht

«Braucht ein Verfassungsstaat seine eigenständige Verfassungsgerichtsbarkeit?»

Seminarbeschreibung

Mit seinen Entscheidungen vom 14. April über die Rentenreform hat sich der französische Conseil Constitutionnel geweigert, sich zur wirtschaftlichen oder sozialen Bedeutung der Reform zu äussern – anders als von vielen Bürgern und von der Opposition erhofft. Immerhin: egal was er gesagt hätte, er wäre bestimmt kritisiert worden. Hätte es jedoch anders kommen können, wenn man die Machtverhältnisse in der Fünften Republik betrachtet? 

Schauen wir einmal nicht von Frankreich selbst, sondern von der Schweiz aus auf den französischen Conseil Constitutionnel, so drängt sich ein vergleichender Blick auf. Dieser wird einen anderen Nachbarn, Deutschland, miteinbeziehen. Denn in der Verfassungskultur bleiben die strukturellen und kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich unverändert gross. In seiner Eigenschaft als zentraler Akteur des deutschen Rechts- und Verfassungssystems wird in der Tat das Bundesverfassungsgericht oft als Vorbild für Autorität und Vertrauen beschrieben, zu dem es kein gleichwertiges französisches Gegenstück gibt.  

Aber über diese Unterschiede hinaus stehen beide Institutionen heute vor gemeinsamen Herausforderungen, vor denen alle Verfassungsgerichte in der heutigen Zeit stehen: zu denken ist etwa an die Regulierung neuer Technologien, die Grenzziehung bei der straf- und polizeirechtlichen Terrorismusbekämpfung, oder die Aushandlung von Lösungen bei gesellschaftspolitischen Fragen wie der Sterbehilfe, Bioethik oder staatlicher Neutralität in Religionsfragen, sowie auch Fragen des Umweltschutzes und der Biodiversität in immer stärkerem Masse. Dafür spielen auch die Supreme Courts in nichteuropäischen Ländern des «Global South» eine bemerkenswerte Rolle. 

Mehr noch, wenn man heute über Verfassungsgerichtsbarkeit nachdenkt, sehen wir schnell, dass sie im Konstitutionalismus des 21. Jahrhunderts keine Selbstverständlichkeit ist: Zum einen haben einige europäische Länder kein eigenes Verfassungsgericht, sehr wohl jedoch eine verfassungsgerichtliche Kontrolle (insbesondere die Schweiz – was zu den unterschiedlichen Modellen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle führt), und andere Länder kennen auch gar keine Möglichkeit der verfassungsgerichtlichen Kontrolle eines Gesetzes (die Niederlande). Zum anderen ist heutzutage die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit durch neue Gefährdung vielerorts durch autoritäre politische Bewegungen bedroht. Man denke hier an die Angriffe auf den Obersten Gerichtshof Israels, die Schwierigkeiten des Rechtsstaats in Polen oder sogar die zunehmende Politisierung des US-Supreme Court. Welche Stellung haben die Verfassungsgerichte in Europa – auch gegenüber den europäischen Gerichten –; welche Rolle spielen sie für und bei der Verteidigung der liberalen Demokratie? 

In diesem Seminar werden wir diese Fragen zur Verfassungsgerichtsbarkeit anhand von konkreten Fallbeispielen erörtern. Das Seminar steht daher allen Studierenden offen, die sich für den Vergleich von Rechten und Rechtskulturen sowie für die Herausforderungen der Demokratie im 21. Jahrhundertinteressieren und ihn anhand von theoretischen, historischen und rechtsvergleichenden Perspektiven unternehmen wollen. Dementsprechend sollten die schriftlichen Arbeiten auch einen rechtsvergleichenden und/oder theoretischen und/oder historischen Ansatz aufweisen.  

Sie können Ihre schriftliche Bachelor- oder Masterarbeiten sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache verfassen. Nähere Informationen zum Seminar und zur Anmeldung entnehmen Sie bitte der beiliegenden Seminarankündigung. Die Anmeldung für das Seminar erfolgt über das Studierendenportal

Seminarankündigung «Braucht ein Verfassungsstaat seine eigenständige Verfassungsgerichtsbarkeit?» (PDF, 86 KB)

 

Prof. Dr. Aurore Gaillet

Aurore Gaillet ist Professorin für Öffentliches Recht am Centre de Droit comparé, Institut de recherche de droit européen, international et comparé (IRDEIC) an der Université de Toulouse 1 Capitole und seit 2018 Mitglied des Institut Universitaire de France (IUF). Sie studierte Öffentliches Recht in Strasbourg sowie Berlin und promovierte 2010 bei Oliver Jouanjan und Thomas Würtenberger an den Universitäten Strasbourg und Freiburg i. Br.

Prof. Gaillet ist spezialisiert auf das Öffentliche Recht und die Verfassungsgeschichte vor allem der Felder der Rechtstaatlichkeit, Verfassungsgerichtsbarkeit und der Rechtsbehelfe, die sie in einem umfassenden Sinne erschliesst: in historischer und theoretischer sowie auch rechtsvergleichender Hinsicht. Im hier verlinkten  Video bespricht Prof. Dr. Gaillet ihr 2023 erschienenes Buch «la Cour constitutionnelle fédérale allemande. Reconstruire une démocratie par le droit (1945-1961)».

Wir freuen uns, Sie für ein Seminar an der UZH im HS 2024 gewinnen zu können. Sie wird Ihnen mit ihrem verfassungshistorischen und -theoretischen sowie rechtsvergleichenden Seminar zum Thema «Verfassungsgerichtsbarkeit» die Möglichkeit geben, nicht nur spannendes Wissen zu erlangen, sondern auch eine eigene Perspektive zu entwickeln.

Weiterführende Informationen

Hinweise für rechtsgeschichtswissenschaftliche Arbeiten

Die Hinweise für rechtsgeschichts-wissenschaftliche Arbeiten bildet die Grundlage für das Verfassen Ihrer Bachelor- oder Masterarbeit im Rahmen eines Seminars am Lehrstuhl Liebrecht.